Erstmals sind 1998 fuehrende Vertreter und Repraesentanten aus
Religionsgemeinschaften in Deutschland auf Einladung der
Weltkonferenz der Religionen fuer den Frieden (World Conference
on Religion and Peace / WCRP) in Mainz zu einem "Runden Tisch"
zusammengekommen.
Die Religionsgemeinschaften fuehlen sich mitverantwortlich
fuer das gesellschaftliche Zusammenleben in unserem Land und sind
sich der Bedeutung der Religionen fuer das oeffentliche Leben
bewusst.
Sie wenden sich deshalb mit einem gemeinsamen Brief der
Religionen an die fuehrenden Persoenlichkeiten, an die Gemeinden
und Gruppen ihrer eigenen Religionsgemeinschaften. Hierin werden
Aengste, Fragen und gemeinsame Aufgaben fuer die Zukunft
benannt.
Der Brief wurde auf einer Pressekonferenz am Freitag, dem
8.Januar 1999, um 11:00 Uhr, im Frankfurter Presseclub e.V.,
Saalgasse 30, Frankfurt am Main, veroeffentlicht.
Brief der Religionen an die Religionen in Deutschland
Es ist an der Zeit, aufeinander zuzugehen. Die
Religionsgemeinschaften fuehlen sich mitverantwortlich fuer das
gesellschaftliche Zusammenleben und sind sich der Bedeutung der
Religionen fuer das oeffentliche Leben bewusst. Religion ist
nicht nur Privatsache. Die Frage der religioesen Unterweisung an
den oeffentlichen Schulen wird in vielen Laendern der
Bundesrepublik gestellt. Das Grundgesetz der Bundesrepublik
verpflichtet - zumal in seinen grundlegenden ersten Artikeln - zu
einem konstruktiven Zusammenwirken, nicht nur zu einer
aeusserlichen Toleranz. Wir koennen die Fragen nach einem solchen
Zusammenwirken aus solchen Gruenden, vor allem aber aus unserem
je eigenen Selbstverstaendnis heraus, nicht laenger
hinausschieben.
Wir wenden uns mit diesem Brief zunaechst an die eigenen
Religionsgemeinschaften, ihre fuehrenden Persoenlichkeiten, ihre
Gemeinden und Gruppen. Wir wissen, dass es nicht mehr ausreicht,
lediglich nebeneinander her zu leben. Immer noch belasten uns
Feindbilder, Vorurteile und Missverstaendnisse, die sich in der
Gesamtgesellschaft auswirken. Wir erfahren immer staerker, dass
die Fragen, die uns unbedingt angehen, nicht mehr gestellt
werden. Wem gegenueber fuehlen sich die Menschen dann wirklich
verantwortlich? Uns eint der Bezug auf eine letzte, unbedingte
Wirklichkeit, die Juden, Christen, Muslime, Baha'i und Menschen
in anderen Religionen Gott nennen und die uns in die
Verantwortung stellt.
Es gibt in Teilen der Bevoelkerung Aengste:
- Aengste vor moeglicher kultureller Ueberfremdung durch
Menschen, die aus anderen Laendern und unterschiedlichen
Religionen stammen.
- Umgekehrt gibt es in Minderheitengruppen Aengste, von der
Mehrheitsgesellschaft und den in ihr dominierenden Kraeften
abgelehnt und abgewertet zu werden.
- Es gibt die Angst, die eigenen Wertetraditionen in einer
pluralistischen, zur Beliebigkeit neigenden Gesellschaft nicht
mehr verwirklichen zu koennen.
- Schliesslich gibt es die Angst vor fundamentalistischer
Bedrohung der Freiheit.
Wir stehen gemeinsam vor einer Fuelle von Fragen, auf die wir
antworten muessen.
- Wie koennen wir uns mit unseren religioesen Anliegen und
unseren ethischen Wertmassstaeben in einer Gesellschaft Gehoer
verschaffen, die weitgehend diesseitig-saekularisiert orientiert
und von oekonomischen Gesetzen gepraegt ist?
- Wie koennen wir in einer pluralen Gesellschaft
Heranwachsenden Orientierung geben in den Sinnfragen des Lebens
und sie zu verantwortlichem Handeln ermutigen?
- Wie koennen wir Menschen begegnen, die nicht glauben wollen
oder koennen, zumal solchen, die den Religionen resigniert
gegenueberstehen und daher skeptisch und agnostisch ihren
Lebensweg zugehen suchen?
- Wie koennen wir uns als Religionsgemeinschaften den
Anforderungen der wachsenden Globalisierung - den Fragen nach
Gerechtigkeit, Frieden und dem weltweiten Schutz der
Lebensgrundlagen - stellen und das Zusammenleben im "globalen
Dorf" mitgestalten?
- Wie koennen wir rassistischem, fremdenfeindlichem,
intolerantem Gedankengut entgegentreten, und wie ist mit Gruppen
umzugehen, die solches verbreiten?
Wir stehen somit vor gemeinsamen Aufgaben:
- Wir kennen uns immer noch zu wenig. Wir muessen aufeinander
zugehen und uns besser kennenlernen, im praktischen Leben wie in
unseren religioesen Lehren.
- Der Dialog der Religionen steht bei uns immer noch am Anfang
und ist bisher keine Sache der breiten Bevoelkerung. Vieles
verbindet uns. Doch soll das, was uns verbindet, nicht zu der
Auffassung fuehren, am Ende seien doch alle Religionen
gleich.
- Der Dialog ist ein Lernprozess, in den wir alle hineingehen
muessen mit dem Willen, voneinander und miteinander zu lernen.
Wer im Dialog steht, weiss, dass niemand herauskommt, ohne
gelernt zu haben und bereichert zu sein.
- Der Dialog zeigt auch, wo wir aus unserem eigenen Glauben und
unserer eigenen Ueberzeugung heraus gemeinsam handeln und dabei
die Gemeinschaft mit allen Menschen guten Willens suchen koennen,
seien sie religioes oder nicht.
- An vielen Orten und zwischen einigen Religionsgemeinschaften
gibt es Bemuehungen, die Verstaendigung und die Kooperation zu
ueben. Freilich sind solche Bemuehungen noch sehr vereinzelt und
praegen nicht das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein.
Daher rufen wir dazu auf:
- Gehen wir aufeinander zu!
Besuchen wir uns in unseren Gottesdienst-, Gebets- und
Meditationsraeumen! Dort koennen wir erkennen, was unseren
Glauben und unser Leben praegt. Wo wir uns persoenlich
kennenlernen und beieinander zu Gast sind, entsteht Vertrauen,
werden Gespraeche moeglich, hoeren wir einander zu - ohne Angst,
uebervorteilt oder in die Enge getrieben zu werden.
- Ueben wir den Dialog!
Wer in den Dialog eintritt, muss sich mit seinem Glauben und
seiner Ueberzeugung in das Gespraech einbringen. Streitfragen
duerfen nicht einfach ausgeklammert werden. Wo sie behandelt
werden, muss es im Respekt voreinander und in der ehrlichen
Bemuehung um die Suche nach Wahrheit geschehen. Die Verpflichtung
zu gegenseitiger Wertschaetzung und zur liebevollen Zuwendung
gerade zum Fremden und Anderen ist in den Religionen verankert,
so dass sie falschen Vorurteilen und der Geringschaetzung des
Fremden und Anderen entgegenwirken muessen.
Nur im Dialog laesst sich entdecken, wo wir in
Grundauffassungen miteinander uebereinstimmen und verbunden
sind.
- Suchen wir die Zusammenarbeit!
In allen Religionen gibt es vom Glauben her die Verpflichtung zur
Achtung vor allem Lebendigen, zur Ueberwindung zerstoererischer
Gewalt, zur Suche nach dem Frieden, zur Solidaritaet mit
Schwachen und Leidenden, zum Einsatz fuer eine gerechte
Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, zum Schutz der Familie,
zur verantwortlichen Partnerschaft von Mann und Frau, zum Ausbau
des Erziehungs- und Bildungswesens.
Es ist eine Fuelle von Aufgaben, die die gemeinsame Arheit der
Religionen erfordern.
Wir bitten unsere Religionsgemeinschaften, diesen Brief wo
immer moeglich und besonders auf lokaler Ebene zur Kenntnis zu
nehmen, zu diskutieren und nach Wegen der Umsetzung zu suchen. In
diesem Sinne soll der Brief zu Dialog und gemeinsamem Handeln vor
Ort ermutigen. Gerade, wenn Menschen verschiedenen Glaubens
gemeinsam auftreten, ist das ein ermutigendes Zeichen der
Hoffnung. Wo das bereits geschieht, erleben wir erfreuliche
Reaktionen.
Wir moechten also die bestehenden Initiativen ermutigen, auf
ihrem Wege fortzufahren, und zugleich zu neuen Initiativen
aufrufen. Die am Mainzer "Runden Tisch" versammelten Vertreter
der Fuehrungskreise verschiedener Religionsgemeinschaften
unterstuetzen diese Bemuehungen nachdruecklich und setzen sich
auch selbst in diesem Sinne ein.
Reichen wir uns die Haende und oeffnen die Herzen
fuereinander, dass in das neue Jahrtausend hinein die Welt
gerechter und friedvoller werde!
Vorsitzender des nationalen Geistigen Rates der Baha'i:
Dr.F.Zoelzer
Vorsitzender der deutschen Buddhistischen Union: Dr.A.Well
Von der evangelischen Kirche: Bischof Kohlwage, Bischof
Dr.Koppe, Dr.Dehn
Hinduismus: Prof.Dr.R.A.Moll
Vorsitzender des Islamrates: H.Oezdogan
Praesident des Zentralrates der Juden in Deutschland: Ignatz
Bubis
Von den orthodoxen Kirchen: Archidiakon Dr.Dr.Klein
Von der roemisch-katholischen Kirche: Bischof Dr.H.J.Spital,
Weihbischof Dr.H.J.Jaschke, Prof.Dr.H.Waldenfels
Vorsitzender des Zentralrates der Muslime: Dr.N.Elyas
Weltkonferenz der Religionen fuer den Frieden (WCRP):
Prof.Dr.J.Laehnemann, Dr.K.Lefringhausen, Praesident
F.Brendle
Quelle: Einladung zur Pressekonferenz und KNA.